Erschienen in der Serie „10 nach 8“ auf Zeit Online am 28. Januar 2020 – Fotos: Michaela Maria Müller.
Hier ermordeten die Nazis 1,1 Millionen Menschen, nur 7.000 konnten gerettet werden. Ein Besuch in Auschwitz, am 75. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers
Am Tag der Gedenkfeier anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung ist vieles anders in der Stadt. Bereits kurz nach acht Uhr stockt auf der Ulica Legionów, die zum ehemaligen Stammlager von Auschwitz führt, der Verkehr. Die Straße ist gesperrt. In der Ferne kündigen Polizeisirenen die Ankunft einer Delegation an. Alle müssen warten, beinahe eine unfreiwillige Gedenkminute: Fußgänger*innen, Rad- und Autofahrer*innen und der Fahrer eines Lkws, der ein Polter Holz geladen hat, ebenfalls. Aus mehr als 50 Ländern haben sich Vertreter*innen angemeldet. Als die Kolonne mit Blaulicht eskortiert vorbeigefahren ist, rollt der Verkehr weiter.
In der Stadt führt am Vormittag ein junger Mann, der als Freiwilliger ein Jahr in Oświęcim verbringt, eine deutsche Schülergruppe durch das Jüdische Museum. Es ist im ehemaligen Haus der Familie Kornreich untergebracht. Dort wird das jüdische Leben vor dem Zweiten Weltkrieg dokumentiert: Die Schenkungsurkunde eines Grundstücks bezeugt, dass es seit dem 16. Jahrhundert jüdisches Leben in der Stadt gegeben hat. Die ersten Familien stammten vermutlich aus Westeuropa und handelten mit Salz und Gewürzen. In den Vitrinen sind noch die bunten Etiketten und Likörflaschen der Spiritus-Raffinerie Haberfeld ausgestellt. Gegründet 1804, wie es auf einem Firmenschild nachzulesen ist. Auch alte Familien- und Klassenfotos sind zu sehen. Sowie Überlebende, die nach der Befreiung versuchten, in Oświęcim Fuß zu fassen. Die meisten hielten es nicht aus und wanderten nach Israel oder die Vereinigten Staaten aus. Jede dieser Aufnahmen erzählt ein unfassbares Schicksal, von Lola und Maurycy Bodner zum Beispiel, die 1946 den fünfjährigen Menachem adoptieren, der Josef Mengeles Versuche überlebte. Auf dem Foto haben die beiden das Kind in ihre Mitte genommen und lächeln in die Kamera.
Der Geruch von Kohle liegt über der Stadt
Das Jüdische Museum befindet sich im Zentrum von Oświęcim in der Nähe des Marktplatzes. „Es kommen viele Besucher*innen“, bemerkt eine Bewohnerin, „und immer mehr nun auch in die Stadt.“ Die Zahlen der Gedenkstätte bestätigen das. Im vergangenen Jahr kamen 2,3 Millionen Menschen, so viele wie noch nie.
Die gelben Shuttlebusse, die man aus dem Berliner Stadtverkehr kennt, bringen heute Teilnehmende nach Birkenau, wo am Nachmittag die zentrale Gedenkveranstaltung stattfindet. An einem normalen Tag pendeln die Busse alle zehn Minuten zwischen Auschwitz und dem Dorf Brzezinka, um Besuchergruppen hin- und herzutransportieren. An normalen Tagen ist auf den Straßen nicht viel Verkehr. Nur Anwohner*innen, die Shuttlebusse und ein paar Großraumtaxen sind da unterwegs, letztere um zu den etwas abgelegeneren Erinnerungsorten zu gelangen, wie dem Minoritenkloster in Harmęże etwa, um die Zeichnungen des Überlebenden Marian Kołodziej zu sehen.
Heute ist das anders. Der Geruch von Kohle liegt über der Stadt, wie überall im schlesischen Kohlerevier. Der Bus überquert eine Brücke, die über Gleise führt. Neben ihr, an der Maksymiliana Kolbego, befindet sich ein Kohlehandel. Dort türmen sich Steinkohlehaufen, die über Förderbänder transportiert und nach Bruchgrößen sortiert werden. Auf der einen Seite des Dorfrands von Brzezinka befindet sich die erste Judenrampe, am anderen das ehemalige Vernichtungslager. Von den Baracken, die sich hinter dem Tor rechts und links der Bahngleise erstreckten, zeugen heute noch die gemauerten Kamine, die aus der Wiese nach oben ragen.
Die Überlebende Irene Weiss, die als 13-Jährige im Lager inhaftiert war, erinnert sich, dass es zwei Auschwitz‘ gab: das bei Tageslicht und das der Nacht. Viele, die bei Tag ankamen, glaubten zunächst, sie seien in einem Arbeitslager und ahnten nicht, dass nach der Selektion an der Rampe der Tod folgte. Diejenigen, die in der Nacht ankamen, begriffen es sofort. Sie mussten in der Dunkelheit in Richtung der vermeintlichen Duschräume laufen. Aus den Kaminen der Krematorien schlugen meterhoch Rauch und Flammen. Irene Weiss erinnert sich, als sie in den Nächten gezwungen war, die nie kleiner werdenden Schuhberge im Effektenlager zu sortieren. Sie, ein Mädchen von dreizehn Jahren, hielt sich die Ohren zu, bis eine Gruppe verzweifelter Menschen vorbeigetrieben wurde, denn sie konnte die Schreie nicht aushalten. Am 26. Mai 1944, an dem Tag als sie ihre Familie verlor, wurden 10.000 Menschen ermordet.
„Schauen Sie nicht gleichgültig zu“
Für die Gedenkveranstaltung ist über dem Tor von Birkenau ein großes weißes Zelt errichtet worden, das gleichsam die alte Begrenzung des Lagers aufbricht. Es spannt sich darüber und ist hell erleuchtet. Wenig später haben dort Überlebende und Staatsgäste Platz genommen. Was die Überlebenden berichten, ist schwer zu ertragen und immer noch unfassbar.
„Ich stehe heute hier“, sagt Bat-Sheva Dagan, „und ich weiß nicht, ob es wahr ist oder ein Traum, nach all den Leiden, die ich hier erfahren habe.“ Sie erinnere sich nicht mehr, sagt sie, was schlimmer war: das Tätowieren oder die Rasur ihrer Haare. Als ihre Hände den geschorenen Kopf berührt hätten und sie sich in einer Fensterscheibe gespiegelt gesehen habe, habe sie sich selbst nicht erkannt. Die Haare wuchsen wieder, aber die Erinnerung sei geblieben. Sie habe sich Rache gewünscht, dafür, dass die Menschen anstehen mussten, um in den Tod zu gehen. Eine Gaskammer in diesem Krematorium maß 234 Quadratmeter, jedes Mal wurden 1.600 Menschen ermordet. Bis der Tod eintrat, dauerte es 30 Minuten. Je näher man sich an den Schächten befand, in die vom Dach aus das Gift geschüttet wurde, umso schneller ging es. „Ich hoffe“, schließt Dagan und wendet sich an die Anwesenden, „Sie alle setzen sich dafür ein, dass so etwas nie wieder passiert, und halten die Erinnerung an diesen Ort aufrecht.“
Das elfte Gebot
Der Überlebende Marian Turski, heute Vorsitzender des Jüdischen Historischen Instituts Warschau, mahnt, dass Auschwitz nicht vom Himmel gefallen sei. Er versetzt die Zuhörer*innen in das Berlin der frühen Dreißigerjahre: „Auf einer Bank stand: ‚Juden dürfen nicht auf der Bank sitzen.‘ Nun ja, könnte man sagen, sie können ja noch woanders sitzen. Es gibt so viele Bänke. Dann hieß es, sie dürfen nicht in Gesangsvereinen Mitglied sein. Nun ja, dann gründen sie eben ihre eigenen. In Schaufenstern von Bäckereien hingen Schilder: ‚Wir verkaufen nur ab fünf Uhr Brot an Juden.‘ Nun ja, auch daran kann man sich gewöhnen. So wurde es normal, dass Menschen ausgeschlossen und ausgegrenzt wurden. So ist es passiert. Schritt für Schritt. Alle haben es akzeptiert, die Opfer, Täter*innen und Mitläufer*innen. Und plötzlich ging es ganz schnell.“ Turski erinnert an das „elfte Gebot“: „Du sollst nicht gleichgültig sein. Schauen Sie nicht gleichgültig zu, wenn Minderheiten diskriminiert werden.“
Auch der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist unter den Gästen. Er besucht, ebenso wie die Kanzlerin Angela Merkel vor zwei Monaten, zum ersten Mal die Gedenkstätte. Auf ihn, der bei den Gedenkveranstaltungen als Stellvertreter des Tätervolks auftritt, sind die Augen gerichtet, wie schon wenige Tage zuvor in Jad Vaschem. Er schreibt in das Gästebuch: „Auschwitz ist ein Ort des Grauens und ein Ort deutscher Schuld. Es waren Deutsche, die andere Menschen herabgewürdigt, gefoltert und gemordet haben. Wir wissen, was geschehen ist und müssen wissen, dass es wieder geschehen kann.“
Inzwischen sind es die dritte und vierte Generation, die das Gedenken weitertragen. Doch es ist absehbar, dass in Zeiten des Populismus von rechts in den kommenden Jahren viel um Erinnerung gerungen werden muss. Obwohl die Fakten klar sind, obwohl es inzwischen eine hochdifferenzierte Forschung zum Holocaust gibt.